Buchorakel
Schlechte Gewohnheit
Eine solche ist das Bedürfnis, gleich alles zu bedenken, was mir Lebendiges vorgekommen ist. Das kleinste Begegnis erregt in mir eine sonderbare Denklust. (..)
Ich bin vielleicht ein etwas überspannter, aber ich bin auch ein genauer Mensch. Ich empfinde die kleinsten Verluste, ich bin in gewissen Dingen peinlich gewissenhaft, und nur ab und zu muss ich mir wohl oder übel gebieten: Vergiss das!
Ein einziges Wort kann mich in die ungeheuerste und stürmischste Verlegenheit setzen, ich bin dass von dem Gedanken an dieses scheinbar Winzige und Nichtige erfüllt, durch und durch, während die Gegenwart, wie sie treibt und lebt, für mich unerklärlich geworden ist. Diese Momente sind eine schlechte Gewohnheit. Auch dies ist eine schlechte Gewohnheit , das was ich da mache, Gedankenaufnotieren.
Robert Walser: „Der Gehülfe“
chamäleon123 - 27. Feb, 11:29
Oft sass er am Küchentisch und grübelte darüber nach, ob seine nächsten Freunde genauso waren wie er selbst. Politisch uninteressiert, nur mit ihren privaten Angelegenheiten befasst. Wenn überhaupt über Politik gesprochen wurde, war es eher eine wenig fundierte Art und Weise, Politiker zu zerpflücken, sich über ihre idiotischen Entscheidungen zu erregen, aber dann nicht weiter zu fragen, wie die Alternativen ausgesehen hätten.
Kurt Wallander, nach der Enttarnung eines Spions über seine politische Gleichgültigkeit sinnierend. Aus "Der Feind im Schatten" von Henning Mankell
chamäleon123 - 16. Dez, 11:59
"Mein Freund, gesund und normal sind nur die gewöhnlichen Herdenmenschen. Die Überlegungen über das nervöse Zeitalter, die Überanstrengung, die Degeneration und dergleichen mehr können ernsthaft nur die beunruhigen, die das Lebensziel im Gegenwärtigen sehen, das heisst, die Herdenmenschen."
Anton Pawlowitsch Tschechow (1860 -1904) : Meistererzählungen - Der schwarze Mönch
chamäleon123 - 4. Mär, 08:23
Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Missgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen anderen, noch sich selbst anzuklagen.
Epiktet
chamäleon123 - 4. Sep, 11:20
Zu Fuss und fröhlichen Herzens schlage ich die freie Strasse ein,
Gesund, frei, vor mir die Welt;
Vor mir der lange braune Pfad, der mich führt, wohin ich nur will.
Fortan verlang ich kein Glück; ich selbst bin das Glück. Fortan wimmere ich nichts mehr, verschiebe nichts mehr, brauche nichts.
Vorbei sind die Klagen zwischen dumpfen vier Wänden und
Bibliotheken, vorbei gallige Kritik.
Rüstig und zufrieden schreit ich die freie Strasse hin.
Walt Whitman: Grashalme - Gesang von der freien Strasse
chamäleon123 - 29. Jan, 22:06
Mir wollen keine bäh!-Bücher mehr einfallen. Eine der positiven Seiten des Vergessens, immerhin.
Doch, halt: der "Ulysses". Und ein esoterisches von Louise Hay oder Heu oder so - nach dem Motto: Schmerzen an den Fingern? Loslassen! Bauchweh? Sich vom Bauchgefühl leiten lassen. Verspannter Nacken? Ihnen sitzt die Angst drin. Krank? Selber schuld, eigentlich. Was leben Sie auch so unbewusst vor sich hin?
chamäleon123 - 9. Dez, 15:03
"Von frühester Kindheit an war ich ein leidenschaftlicher Leser. Ich wünschte mir nichts als Bücher zu Weihnachten, zwanzig und dreissig gleichzeitig. Bis ich etwa fünfundzwanzig war, ging ich niemals aus dem Haus, ohne dass ich ein Buch oder mehrere unter den Arm geklemmt hatte. Ich las beim Aufstehen, während ich zur Arbeit ging, und memorierte oft lange Passagen meiner Lieblingsdichter. Ich entsinne mich, dass Goethes Faust hierzu gehörte.
Dieses ständige Verschlingen von Büchern hatte vor allem das Ergebnis, dass es mich zu weiterer Empörung entflammte, meinen geheimen Wunsch nach Reisen und Abenteuern aufstachelte und mich gegen die Literatur einnahm. Es flösste mir gegen meine ganze Umgebung Verachtung ein, entfremdete mich allmählich meinen Freunden und verlieh mir jenen eigenbrötlerischen und exzentrischen Charakter, der zur Folge hat, dass man als "sonderbarer Zeitgenosse" bezeichnet wird. "
Henry Miller: Vom grossen Aufstand
chamäleon123 - 7. Okt, 16:38
Es war, wie gesagt, ein herrlicher Tag und die Luft war so frisch und leicht, dass es ein Vergnügen sein musste, darin zu fliegen. Und mit jeder neuen Schar Wildgänse, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse aufgeregter. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie grosse Lust, mitzufliegen. Aber jedes Mal sagte eine alte Gänsemutter: "Seid nicht verrückt, Kinder, das hiesse so viel wie hungern und frieren."
Bei einem jungen Gänserich hatten die Zurufe ein wahres Reisefieber geweckt. "Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit!", rief er.
Jetzt kam eine neue Schar und rief wie die anderen. Da schrie der junge Gänserich: "Wartet, wartet, ich komme mit!" Aber er war des Fliegens so ungewohnt, dass er wieder auf den Boden zurückfiel.
Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons schönste Abenteuer mit den Wildgänsen
chamäleon123 - 9. Sep, 20:54
Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich -
aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln
und das Leben geht weiter,
als wäre man nie dabei gewesen.
Ödön von Horvath: Kasimir und Karoline
chamäleon123 - 19. Aug, 15:10
Grösstenteils schafft man sich seinen Ärger selbst, entweder durch falschen Verdacht oder weil man Kleinigkeiten zu ernst nimmt. Oft überfällt uns der Zorn, öfters verfallen wir ihm. Dabei darf man sich ihm nie willentlich überlassen und wenn er uns überkommt, sollte er zurückgedrängt werden.
Seneca: Der Zorn
chamäleon123 - 13. Jun, 16:48